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Mein Computer hat fertig gequatscht. Ein Gespräch mit dem sehbehinderten Michael Baumeister darüber, wie er sich im Internet bewegt.

Das Internet – vor allem das World Wide Web mit seinen bunten Bildern, Filmen und interaktiven Oberflächen – erleichtert und bereichert unser Leben. Gilt das auch für Menschen, die es nicht mit allen Sinnen erleben können, sondern mindestens ein Sinnesorgan weniger zur Verfügung haben? Sie nutzen und erfahren das Angebot auf jeden Fall ganz anders. Ich wollte erfahren wie und habe mich daher mit Michael Baumeister verabredet. Michael ist seit vielen Jahren aktiv in der Blinden- und Sehbehindertenbewegung in Berlin und hat erfolgreiche Projekte wie den ersten Online Stadtführer „Berlin für Blinde“ mit aufgebaut. Michael ist von Geburt an stark sehbehindert und hat von daher eine ganz eigene Art und Weise, das Internet zu nutzen. Das Interview habe ich Online über die Video-Chat-Plattform Zoom geführt.

Guten Morgen Michael

(leise im Hintergrund liest der Screenreader die Bedienoberfläche von Zoom vor und bestätigt mit monotoner Stimme die Befehle, die Michael eingibt)
Guten Morgen, mein Computer hat jetzt fertig gequatscht.

Hattest du einen guten Start in den Tag?

Ja, habe schon seit heute morgen um sieben am Rechner gesessen und Radiosendungen bearbeitet. Computer, Internet und Smartphone machen das möglich. Das sind in dieser Reihenfolge die besten Erfindungen, die uns Blinden und Sehbehinderten passieren konnten. Damit kann ich solche Dinge wie Radiosendungen überhaupt erst aufnehmen, bearbeiten und senden. Wenn du mir vor 30 Jahren erzählt hättest, das ich zum Beispiel regelmäßig Tagesspiegel lese, hätte ich dich ungläubig angeguckt. Die hätten damals wohl eine vier Meter breite Ausgabe mit Buchstaben von 50 cm Höhe drucken müssen, um mir das zu ermöglichen. Heute kann ich das am Bildschirm alles selber einstellen. Oder nimm die künstliche Intelligenz – KI, die in so Geräten wir meiner Handycamera eingebaut ist.

Du fotografierst?

Ja, mit meiner Handycamera und zwar immer besser. Da ich ja nur auf einem Auge sehe und mir bei dem verbleibenden die Linse herausoperiert wurde, kann ich nicht fokussieren. Aber die Kamera kann es! Ich brauche so 40, 50 Bilder bis ich das gewünschte Ergebnis habe aber es geht. Bewegte Personen scharf stellen ist natürlich schwierig. Aber da hilft mir dann die Automatik mit künstlicher Intelligenz. Nachdem ich dutzende Fotos meiner Enkel auf dem Spielplatz gemacht habe, erkennt die Kamera schon ihre Gesichter und stellt automatisch scharf, wenn sie sie „sieht“. Das ist natürlich toll. Die anderen Kinder sind dann leicht unscharf.

… Was ja auch datenschutzrechtlich ganz praktisch ist

Am Anfang ist mir das öfter passiert, dass ich fremde Kinder fotografiert habe. Das Gelächter bei meinen Töchtern war dann immer groß: „Da hast du wieder die falschen Kinder fotografiert, magst du die etwa lieber?“ – mittlerweile kein Problem mehr. In die Social Media stelle ich solche Bilder natürlich nicht.

Gut das Thema Datenschutz und KI ist ja auch ein Ernstes. Aber für Sehbehinderte bringt sie unbestritten eine Menge Gutes.

Ja, ich nutze zum Beispiel eine App, die mir so Dinge vorliest, wie handgeschriebene Zettel am schwarzen Brett. Die würde ich normal nie lesen können. Mit der kann ich auch im Supermarkt Lebensmittel erkennen – vor allem das Kleingedruckte auf der Verpackung. Nur mit dem Haltbarkeitsdatum ist es schwierig.

Warum gerade damit?

Weil das immer woanders steht und unterschiedlich aussieht.

Stimmt, darauf habe ich noch nie geachtet …

… weil du ja auch nie darauf angewiesen warst, dass es an der gleichen Stelle stehen muss, damit es eine Software zuordnen kann.

Stimmt, tatsächlich suche ich auch dauernd nach der Stelle wo es steht, da es bei jedem Produkt anders ist. Sollte man wirklich mal vereinheitlichen.

Die gleiche App kann übrigens auch Gegenstände erkennen. Auch sehr nützlich. Wobei sie dann an entscheidender Stelle doch wieder nicht funktioniert: In der S-Bahn zeigt sie mir keine Plätze an. Sie sagt immer, da steht ein Sofa (lacht). Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass es in ganz Berlin keine S-Bahn mit Sofas gibt …

Sagt sie wenigstens ob das Sofa noch frei ist?

Ne, leider auch nicht. Diese Apps gibt es von verschiedenen Herstellern und alle entwickeln sie unabhängig. Ich nutze „Lookout“ von Google. Sie hat verschiedene Funktionen wie dieses Lebensmittelprogramm, Erkennung von Gegenständen und Erkunden von Räumen. Auf der einen Seite funktionieren diese Apps erstaunlich gut und sind eine große Hilfe für uns. Auf der anderen Seite denke ich manchmal, die Entwickler lassen sich eher von Captain Kirk und Spock inspirieren als von den Wünschen der Nutzer. Sonst wäre es vielleicht auch schon möglich, das Screenreader optisch dabei unterstützt werden, Webseiten zu interpretieren.

Du meinst, sie erkennen abgebildete Produkte und Bilder und lesen sie selbstständig vor?

Ja denn dann würden sie die Programmierfehler deiner Web-Entwickler Kollegen wie fehlende Alternativtexte für Bilder oder fehlende Beschriftungen von Eingabefeldern schon mal ausgleichen (grinst). Das ist technisch sicher möglich aber leider noch nicht umgesetzt.

Kommen wir mal zu guten Beispielen für Websites für Sehbehinderte. Fallen dir da welche ein? Wie sieht es denn zum Beispiel mit den Seiten der Sehbehindertenverbände aus. Die müssten sich ja eigentlich richtig viel Mühe geben

Klar, die Seiten sind schon ganz ordentlich. In Berlin gibt es zum Beispiel die Seite des ABSV „
Allgemeiner Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin gegr. 1874 e.V.“ –

Die Jahreszahl klingt schon mal beeindruckend …

Könnte sein, dass es die älteste Selbsthilfeorganisation der Welt ist …

Könnte oder ist sie es?

Naja, es hat sich noch keiner die Mühe gemacht, dass zu beweisen – mehr Spenden bekommt man dadurch ja nicht gerade. Die Seite ist jedenfalls ganz ordentlich. Obwohl ich sie persönlich anders strukturiert hätte. Aber da ist es auch so, wie immer auf der Welt: drei Menschen, vier Meinungen. Das ist auch unter Blinden nicht anders. Und Veränderungen brauchen immer sehr lange.

Ausserhalb der Verbandsseiten gibt es ja doch auch immer noch zu viele Negativbeispiele wie aktuell (Anmerkung: 2021) zum Beispiel die Seite für die Impfterminvergabe zur Coronaimpfung …

Ja, das ist natürlich ein echtes Negativbeispiel. Die Seite ist wohl recht schnell zusammengekloppt worden.

Gerade dann hätte man doch auf elementarste Technik zurückgreifen können und ein Formular einfach korrekt programmieren können.

Einfache Lösungen sind halt oft nicht attraktiv. Ich versuche gerade, mit dem Land Berlin über eine einfache Formularlösung zu sprechen, die wir ja im Rahmen des Online „Hackathons“ gebaut haben, an dem du auch teilgenommen hast. Anmerkung: Ein Hackathon ist eine Programmiersession, bei der die Teilnehmer versuchen, möglichst schnell einfache Lösungen für Anwendungssoftware zu finden – gemeint ist hier der „Breakathon“ von KudiBa Berlin. Mit dieser einfachen Eingabelösung könnten Sehbehinderte Formulare viel leichter ausfüllen. Aber bis jetzt hatte ich keinen Erfolg.

Das Formular dieser Lösung besteht im Wesentlichen aus sauber programmiertem HTML mit ein wenig CSS, damit die Formularfelder kontrastreich darstellt werden. Kein Hexenwerk. Komisch, dass das anscheinend so schwierig ist.

Das liegt meiner Meinung nach auch an der komplizierten Aufbereitung des ganzen Barrierefreiheitsthemas. Web-Entwickler werden durch langatmige Verordnungen und umständliche Formulierungen eher abgeschreckt. Ich stelle das immer wieder fest, wenn ich an solchen Projekten mitarbeite. Dabei ist es doch so: Jeder Schalter braucht einen Namen, sonst kann ein blinder Mensch ihn nicht zuordnen. Hat er keinen, liest mir die Sprachsoftware nur „weiter“ oder „Schalter“ vor. Wofür sagt sie nicht. Leider erscheint beim Programmieren keine Fehlermeldung, wenn etwas nicht oder falsch benannt wurde. so fallen Fehler nicht auf. Von daher ist es auch nicht im Bewusstsein der Entwickler.

Barrierefreiheit ist also zu einem großen Teil einfach Fleissarbeit

Ja, und einhalten von Regeln. Ich weiss, dass klingt langweilig, aber wir Sehbehinderte müssen uns darauf verlassen, dass unsere Umwelt sich ganz klar an Regeln hält. Wenn ich über die Ampel gehe, weil das Signal ertönt, darf da eben kein Auto kommen. Und wenn ich im Supermarkt einkaufe, dann soll da die fettarme Milch immer an der gleichen Stelle stehen und nicht auf einmal links daneben. Genau solche Regeln brauche ich auch im Netz. Eigentlich wäre es toll, wenn jeder Web-Entwickler seine Webseiten einmal mit dem Screenreader testet und die Bedienbarkeit prüft.

Das käme glaube ich auch allen zu Gute, weil dann Webseiten grundsätzlich strukturierter und besser programmiert wären. Was ja letztendlich auch für die Sichtbarkeit auf Suchmaschinen wichtig ist.
Wo wir grad bei Supermärkten sind – wie sieht es eigentlich mit Shopping im Internet aus? Das ist auch kein schönes Erlebnis als Blinder, oder?

Nee – aber da kann ich das viel eher verstehen als bei informativen Seiten. Da geht es ja in erster Linie darum, den Käufer zum Kauf zu bewegen – ihm ein möglichst angenehmes und vergnügliches Einkaufserlebnis zu bieten und ihn vom Preisvergleich abzuhalten. Da wird dann tief in die Trickkiste gegriffen.
Was helfen würde, wäre eine reine Basisversion des Shops, die sauber programmiert ist und mit der ich mich durch den Shop bewegen kann ohne von Pop-ups und Bannern abgelenkt zu werden. Damit wäre schon viel geholfen.

Auch hier wieder: Die grundlegende Programmierung muss stimmen

Genau. Letztes Jahr haben wir in der Blinden Community einen großen deutsche Schuh- und Modeversender genervt, weil dort kein Schuh gekauft werden kann, wenn man nicht vorher die Schuhgröße angegeben hat. Die Einstellung der Schuhgröße war aber für Blinde nicht benutzbar. Wir haben dann auf Social Media richtig Druck gemacht und immer wieder geteilt, das Blinde nicht bei diesem Shop einkaufen dürfen. Erstaunlicherweise ging es dann auf einmal doch. Mit Druck kann man also einiges erreichen. Ähnliches habe ich jetzt mit dem großen schwedischen Möbelhaus vor. Deren Home-App hält sich nicht an die Android Standards, daher können wir die Schieberegler nicht mit der Laut-Leise-Taste bedienen …

Schade, dass man immer Druck machen muss, bis etwas passiert. Hast du sonst noch sinnvolle Hilfsmittel, die dir wichtig sind und die auf keiner Website fehlen sollten?

Auf jeden Fall halte ich die Einstellung von Hell-Dunkel-Ansichten für sehr wichtig. Am Besten noch mit mehr als zwei Variationen. Dann kann jeder Sehbehinderte wählen, welche Version für ihn am Besten passt. Für mich und viele andere sind zum Beispiel Seiten mit viel Weissraum ein Greuel. Weiss blendet und bei alten Monitoren flimmert auch noch der Bildschirm. Ich ziehe dann die invertierte Ansicht vor. Ich bin auch immer noch Fan der Schriftvergrößerungsfunktion auf der Website. Es ist ja so, dass viel Sehbehinderte am Anfang ihrer Krankheit nicht wahr haben wollen. Sie sträuben sich solange es geht davor, Screenreader oder andere Hilfen zu nutzen. Sie sind dann dankbar für solche „eingebauten“ leichten Hilfen auf der Seite selbst.

Danke für deine Zeit Michael und dafür, dass du mir und den Lesern so einen detailreichen Einblick in deinen Alltag im Internet gegeben hast.